Das Muss

Ich muss brav sein, sagte mir meine Mutter, als ich noch klein war. Ich muss sauber sein und mich immer waschen, auch wenn ich gerade keine Lust hatte. Es ist viel zu kalt im Badezimmer, kein Holz zum Heizen, die Badewanne schmutzig, kaltes Wasser.

Ich muss in der Früh aufstehen, ich würde aber gerne länger schlafen, einfach nur liegen bleiben. Bis ich so weit bin, ohne zu müssen, arbeiten zu gehen. Freiwillig und dann, wenn ich Lust habe.

Ich muss verantwortungsvoll sein und meine Pflichten erledigen, obwohl ich sie gerne auf einen anderen Tag verschieben würde.

Ich muss nach der Arbeit, nach Hause kommen und weiterarbeiten. Staubsauger einschalten, die Spinnennetze herunterholen. Ich muss Wäsche waschen, sie aufhängen und warten bis sie trocken ist. Ich muss kochen und meine Familie ernähren. Ich muss viel trinken, mindestens 2 Liter pro Tag. Ich muss mindestens 7 Stunden schlafen.  Ich muss mein Kind baden, anziehen und fürs Bett vorbereiten.

Ich muss, ich muss, ich muss… loslassen.

Ein ganz normaler Tag wie jeder andere. Überall Menschen mit schlechter Laune. Eine Frau, die mich am Telefon beschimpft: „Ich bin nicht ihre Sekretärin“, sagte sie zu mir. Ich war schockiert über ihre Aussage und fragte mich, welche Kompetenzen diese Frau mit sich brachte, dass sie diese Stelle in diesem Unternehmen bekommen hat.

Wo sind ihre Manieren? dachte ich mir leise, ohne den Mut zu haben, ihr dies ins Telefon zu sagen.

Ich bleibe stark und versuche mich in ihre Lage zu versetzen. Wo bleibt der Respekt, liebe Frau Direktorin? Und ich soll das alles verkraften. Am liebsten würde ich zu ihr gehen. Sie bei den Haaren nehmen, zwei Ohrfeigen geben, meinen Arsch auf ihr Gesicht drücken und ihr einen riesigen, stinkenden Furz zukommen lassen. So dass sie wieder in der Realität aufwacht.

Das darf ich nicht, sagt mir das Gesetz.  Ich muss das runterschlucken, und mich schön benehmen. Ich muss still bleiben. Ich könnte vor Wut platzen. Ruhig bleiben.

Jeder sagt, ich muss dieses machen und jenes tun.

Ich muss meinen Haushalt sauber halten, wie ein Messie zu leben würde ich nicht aushalten. Berge von unwichtigen Sachen verbirgt meine Nachbarin, die kaufsüchtig ist, in ihrer Wohnung. Ich beobachte ganz genau wie es die anderen machen.

Ich muss lernen so zu tun wie die anderen, eine Glühbirne im Auto austauschen, SAT/Spiegel einstellen, Satellit suchen - kein Signal. Ich gebe auf. Technische Sachen, von denen ich keine Ahnung habe. Ich muss tasten, begreifen, lernen es selbst und alleine zu machen.

Ich würde am liebsten nichts davon wissen. Soll es jemand anderer für mich machen.

Ich möchte wie eine Königin behandelt werden. Einige Dinner mit jungen Männern die mir die Weintrauben in den Mund stecken. In einem wunderschönen glitzerblauen Kleid, auf einem Thron sitzend. Die Männer sollten für mich tanzen, meinen Körper mit Öl und Parfum massieren, meine Hände und Füße küssen. Den Rasen mähen und die Wäsche waschen.

Sie sollten meine Diener sein, Oberkörper nackt, enge schwarze Hosen sollten sie tragen, die ihre Männlichkeit sichtbar machen.  Sie sollten mir Liebe schenken und mir helfen. Ich kann doch nicht alles alleine machen. Ein Traum, der unerfüllt bleibt. Aufwachen.

Neuer Tag. Aufstehen. Gehirn einschalten. Ich muss fortfahren, Arbeiten gehen, Kind von der Schule abholen, frisches Brot einkaufen, nach Hause gehen, kochen, Wäsche waschen. Wie oft muss ich das noch in meinem Leben machen? Dem Kind zu essen geben, die Schultasche durchsuchen, Hausübung machen. Kind springt herum, braucht eine Ewigkeit für zwei Zeilen. Gemeinsam essen tut gut, wir diskutieren über den vergangenen Tag, der hinter uns liegt. Geschirr abwaschen, eine Geschichte neu schreiben, Kind fürs Bett vorbereiten, Zähne putzen, Kind Geschichte vorlesen. Kind ist eingeschlafen.

Ich laufe weiter in der Wohnung herum, das und das muss ich noch tun. Ich bin müde und würde mich gerne hinlegen, meine Beine entspannen. Keine Zeit, sag ich mir selbst. Muss noch die Wäsche in den Wäschekorb werfen. Die Hemden sind gebügelt. Mein Schatz wird sich freuen.

Die Muss Geschichte ist lang, ich könnte ewig drüber schreiben. Muss es aber nicht. Sag mir niemals was ich tun muss, nur weil du glaubst zu wissen, was für mich gut ist. Keine laute Stimme auf „Du musst“. Das erschreckt mich.  Ich muss eines Tages sterben, ich muss mein Kind beschützen, ich muss aus meinen Fehlern lernen, ich muss Menschen Liebe schenken, ich muss lernen los zu lassen und für immer zu entspannen.