Verrat. Das Leben und die Kunst von Amelie.


Verrat. Das Leben und die Kunst von Amelie.

Eine Puppe in den Händen zu halten war eine Seltenheit für all die Mädchen aus dem Kinderheim. Kurz vor Weihnachten vorbei gehend, alle die Hände zusammen haltend. Alle waren von den Lichtern bezaubert. Funkeln in ihren Augen. Ein Stern hier, einer dort. Nicht nur der Himmel war von Sternen bedeckt, auch alle Straßen waren prächtig mit Weihnachtsdekorationen beleuchtet und fein geschmückt. .  

Am Schaufenster eines Geschäftes. Eine kleine braune Puppe mit einer roten Mütze am Kopf und ein weißer Schlafanzug mit zwei blauen dünnen Streifen. Die Mädchen blieben alle stehen und hielten für einen Moment Stille. Das jüngste Mädchen sagte auf einmal weinend mit tränenden Augen: „Ich wünsche mir, ich hätte auch so eine Puppe“.

Zu klein um sich zu wehren.

Unter Nicolae Ceausescus kommunistischer Regierung 1967 bis 22.Dezember 1989. Irgendwo in einer armen Siedlung in Bukarest kam Amelie zu Welt. Der Vater war ein Student aus Kenia, der Minenbau in Bukarest studierte.

Vierhundert Kinder in einem Heim. Alle kamen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Die Kinder wurden vom Jugendamt von ihren Familien getrennt.  Alle im unterschiedlichen Alter. Zwischen 1 - 18 Jahre alt. Beziehungen zwischen fremden Studenten aus anderen Ländern und Einheimischen waren völlig verboten. Die daraus verbotenerweise entstandenen Kinder wurden alle ins Heim gesteckt. Wie in einem Konzentrationslager wurden sie gehalten. Es durften keine schwarzen oder beeinträchtigte Kinder auf der Straße gesehen werden.

An das Haus kann sich Amelie noch sehr gut erinnern. Es scheint wie ein Traum in ihrer Erinnerung. Es ist ein paar Jahrzehnte her. Aber der Geruch, der Lärm und jedes einzelne Stück des Metallgitters an den Fenstern blieb in ihrer Erinnerung lebendig.

Im ersten Stock gut organisiert waren die kleinen Buben und die fast erwachsenen jungen Männer. Im zweiten Stock befanden sich die Mädchen.

Badetag war immer Sonntag. Genau zehn Minuten Zeit um sich zu waschen und dann war die nächste Gruppe an der Reihe. Je nach Alter und Geschlecht sortiert.

Amelie liebte es mit all den anderen Kindern zu duschen. In einer Duschkabine, die ca. 3 m² groß war, hat sich Amelie mit anderen neun Kindern gewaschen. Sie war erst 4 Jahre alt. Schweinefett als Seife für Körper und die Haare.

Heißer Dampfgeruch noch in der Nase. Seifen vermischt mit Dampf. So viel Dampf, dass man kaum das nächste Kind erkennen konnte. Es floss immer weniger Wasser aus den hohen riesigen Duschköpfen, die  alle Kinder mit Wasser bedeckten.  Schnell das warme Wasser ausnutzen, Socken, Unterhosen mit dem Rest der gebliebenen Seife auswaschen. Kein Handtuch, das konnte sich das Haus nicht leisten.

Die nasse Wäsche zogen sie über ihre feuchten Körper an, damit sie trocknete.

Amelie in der Quarantäne. Vor dem Eintritt wurde ihr ganzer Kopf reichlich mit Benzin beschmiert. So viel, dass nach der Imprägnierung die ganze Flüssigkeit über das Gesicht und den Hals herunterfloss. Läuse waren keine Seltenheit im Heim. Das war eine richtige Qual für eine Nacht. Der Kopf wurde nachher mit einem Tuch bedeckt, damit die Läuse an dem Gift erstickten.

Zeit für schlafen. Zwanzig Kinder teilten das Schlafzimmer. Die Betten waren aus Massivmetall gebaut. Bei den kleinen Kindern mit einem verstellbaren Gitter versetzt, damit sie nicht aus dem hohen Bett herausfielen. Alte und oft benützte Schlafmatratzen von verängstigten Kindern, die nachts eingenässt eingeschlafen waren.

Manchmal spielten die Mädchen unter den vielen Decken Verstecken bis die Nachtwächter auf ihr kindliches Lachen aufmerksam geworden waren. Psst! es war strikt verboten zu lachen. Auch Besuche von Buben in der Nacht waren strikt verboten.

Amelie sang immer dasselbe Lied. Ihr Lieblingslied, das sie auswendig kannte. Es war ein Ritual abends im Bett, jedes einzelne Kind, synchron, bewegte seinen Kopf ganz stark nach links und rechts bis  es in der Stille des Abends eingeschlafen war.

Die Nächte waren sehr lang als Amelie nicht einschlafen konnte, weil sie starke Zahnschmerzen hatte. Zahnarzttermine gab es keine. Niemand da um sie zu streicheln und ihre Schmerzen zu lindern durch Zärtlichkeit einer Berührung, die ihr sehr fremd war.  

Frühmorgens, Kopftuch herunternehmen. In den Spiegel schauen.  Die ganze Kopfhaut war vom Benzin angegriffen und verbrannt. Aber die Läuse waren mit einem Schlag weg.

Die lange Schlange vor dem Frühstücksraum. Nicht nur die Schlafbetten waren aus Metall, auch alle Teller, Tassen und Besteck waren aus diesem massiven Material hergestellt. Der Frühstücksraum hatte 40 Tische. Somit Platz für 160 Kinder. Jeden Tag gab es Kinder, die verantwortlich für die Küche waren und die dafür sorgten, dass der Schmutz entsorgt wird und die Küche gesäubert wurde, nachdem der Koch nach Hause gegangen war.

An einem Tisch saßen vier Kinder. Tee hergestellt aus geschmolzenem Zucker. Er war schon fast kalt, als er in den Becher kam.  Die genaue Portion an Butter und Marmelade war schon in der Küche genau für vier Personen auf einem Teller  aufgeteilt.

Große Freude für alle am Tisch, wenn einer nicht zum Frühstück kam; es blieb für alle Beteiligten mehr.

Manchmal schaffte Amelie alles wegzuessen, aber nicht immer. Die großen Kinder schlugen sie und nahmen ihr das Essen weg. „Gib es her“!!

So ging Amelie öfter hungrig in die Schule. Kaum die Rede von „Frischem Obst und Jause“ im Gepäck.

Kind braucht Schlaf, Nahrung, Spiel und eine oder mehrere Bezugspersonen. Es muss nicht immer die eigene Mutter sein. Im Heim hatte Amelie viele verschiedene Bezugspersonen. Die unterschiedlich waren. Manche waren fett und manche dünn. Manche hatten schon in der Früh eine Wut und warfen mit allem, was in ihre Hände kam, auf die Kinder. „Meine Mutter ist  einzigartig“, dachte sich Amelie täglich, ohne irgendetwas über sie zu wissen.

Amelie war sehr beliebt bei den Lehrern. Jeder nahm sie in die Arme.  Verwöhnte sie als wäre sie eine kleine Prinzessin. Mit Süßigkeiten und Aufmerksamkeit. Amelies dunkle Farbe hatte zwei Seiten. Sie durfte sogar manche Betreuer zuhause besuchen. Aber ihre Gedanken waren immer bei Mutter und Vater. Stundenlang saß sie an der Eingangstür des Heimes. Auf einer der drei breiten Stiegen. Wie versteinert blickte sie in die Ferne und wünschte sich nur eines, dass ihre Mutter jede Sekunde um die Ecke kommt. Zu ihr. Sie abholt. Sie endlich nach Hause bringt, mit ihr spielt und ihr beibringt, was Leben ist.

Sie kamen nie. Weder der eine noch der andere. Manchmal weinend, manchmal lachend verließ Amelie den Platz auf dem sie stundenlang gesessen hatte.  

Amelies Herz sprang auf bei jeder plötzlichen Bewegung, wenn ein Kind laufend um die Ecke kam.

Mama?  

Amelie kannte ihre Mutter nicht und sie hatte auch gar keine Vorstellung wie sie aussehen könnte. Ist sie blond? Oder schwarz? Ist sie groß oder klein?

Der Wunsch sie zu sehen wuchs in ihr immer mehr. Der Mutter nur für einen Augenblick zu begegnen. So beschloss Amelie eines Tages sie zu suchen.

Als Amelie vierzehn Jahre alt geworden war, erkundigte sie sich bei der Polizei und fragte nach der Adresse ihrer leiblichen Mutter. Mit der Originalurkunde war es für den Beamten sehr leicht, die Mutter ausfindig zu machen. Nachdem sie die Adresse bekam, entschied Amelie, diese Reise auf sich zu nehmen ohne Rücksicht auf Distanz. Amelies gesamtes erspartes Taschengeld, das aus dem Verkauf von Leerflaschen stammte, gab sie für das Zugticket aus.

Die Reise dauerte ca. 3 Std. Eine komplett fremde Stadt. Als Amelie aus dem Zug ausgestiegen war wusste sie nicht, ob sie nach links oder rechts gehen sollte. Sie ging dort, wo alle an dem Tag gingen. Sie ging denen nach. Alle Menschen gingen in den freien Gemüsemarkt. Dort fing Amelie an alle Verkäufer zu fragen. Niemand wusste wo diese Adresse genau war und auch den Namen ihrer Mutter kannte niemand. Verirrt in der großen Stadt auf der Suche nach ihrer Mutter. Stunden später, nach mehrmaligem Fragen stand sie da. Vor ihrer Tür.

Amelie klopfte an der Tür und wartete. Hinter der Türe konnte Amelie mehrere Stimmen hören.

Ein seltsames Gefühl umhüllte ihren Körper während sie vor der Tür wartete.

„Was hab ich denn nur erwartet?“ In ihrem Kopf  ständig diese Frage.

Kalt war der mütterliche Kuss auf ihre Wangen. Die erste Umarmung. Zuviel Abstand, um ihre Wärme zu spüren.

Unverarbeitete Erinnerungen sind geblieben, obwohl Amelie sie jedes Mal in ihrem Kopf überspielt. Sie kommen ihr vor wie gestern, als sie alles erleben durfte.

Die Zeit hinterlässt ihre Geschichte und bleibt wie eine gezeichnete DNA-Zelle in Amelies Körper bis in Ewigkeit erhalten. Nicht begreifbares Erinnerungsvermögen.

Kanalisation, 10.000 Kinder leben in Petersburg auf der Straße. Ihr Leben hängt an seidenen Fäden. Alle haben einen dunklen Fleck in ihrem Leben. Ihre Gebete hört keiner. Wie schade. Amelie ist jetzt für ihr Leben sehr dankbar.

Als Amelie 18 Jahre alt geworden war, verließ sie das Heim. Sie konnte sich kaum mit Rumäniens Bevölkerung identifizieren. Es waren diese Blicke, die sie Tag für Tag auf der Straße trafen als wäre sie von einem anderen Planeten gekommen. Kurz danach bekam Amelie eine Stelle als Dolmetscherin in Österreich. Seit ihrem 19. Lebensjahr lebt Amelie in Österreich. Ihre Enkelkinder erzählen heute noch ihre Geschichte weiter.